Immer wieder höre ich, wie sich Menschen über das Versagen von Autoritäten echauffieren. „Die da oben sind ja total unfähig!“ Alles, was unrund läuft, wird persönlichem Unvermögen zugeschrieben. Man könnte meinen, alle, die etwas zu melden haben, hätten rundweg versagt. Das lässt sich nicht ganz ausschließen. Ich persönlich halte es für sehr, sehr unwahrscheinlich, dass die Besten der Besten einfach nichts können, dass trotz redlicher Bemühungen der Erfolg ausbleibt. Mein Menschenbild ist ein anderes.
In meiner Welt sind Menschen grundsätzlich fähig. Es gelingt ihnen, ihre Ziele zu erreichen. Sie finden Mittel und Wege, ihre Pläne zu verwirklichen. Vielleicht nicht immer gleich, aber mit Beharrlichkeit und Kreativität kommen sie ihrem Ansinnen über kurz oder lang näher. So habe ich die Menschen erlebt. So erlebe ich mich selbst. Aufgeben ist keine Option. Manchmal muss man einen Wert zurückstellen, um einem anderen zu genügen. Man wägt ab, welches Anliegen gerade wichtiger ist und deshalb Vorrang haben sollte. Meine Sichtweise resultiert aus meiner Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Was wir von den Menschen im Grunde halten, wirkt sich auf unsere Einschätzung einer Situation aus. Nehmen wir ein praktisches Beispiel. Im Vorzimmer des Vorstands sitzt ein Drachen. Sie können sich jetzt über die Unfähigkeit der Frau ärgern, den Mitarbeitern freundlich zu begegnen, oder dem Chef jegliche Kompetenz in der Personalauswahl absprechen. Dann ist Ihr Bild der Lage vermutlich rund. Zutreffend muss es deshalb noch lange nicht sein. Nur weil Sie denken, an dieser Postion müsste jemand mit bestimmten Eigenschaften sitzen, heißt das nicht, dass Sie im Recht sind.
Einladung zum Perspektivenwechsel
Darf ich Sie zu einem Gedankenspiel einladen? Ich schlage Ihnen einen Perspektivenwechsel vor: Gehen Sie doch mal ganz im Gegenteil davon aus, dass die Person ihre Aufgabe zu 100 % erfüllt. Und fragen Sie sich vom Ergebnis her betrachtet, was dann wohl ihre Aufgabe ist. Hinterfragen Sie Ihre eigenen Ansichten aus dem Blickwinkel eines unvoreingenommenen Beobachters, nicht aus der Warte eines gut geschulten Kommunikationsexperten. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Nicht alle Vorgesetzten sind Führungskräfte wie sie unsere Vorstellungen von vorzeigbarem Management heutzutage fordern.
Wenn die Wirkung der schroffen Sekretärin ist, dass nur wenige Untergebene es wagen, den Boss mit ihren nebensächlichen Anliegen zu belästigen, ist vielleicht genau das beabsichtigt.
Viel zu schnell entlassen wir Funktionsträger aus ihrer Verantwortung, weil wir ihnen mit dem „Deppen-Stempel“ ein Prädikat für mangelnde Schuldfähigkeit ausstellen: Sie sind einfach zu blöd für den Job. Was wäre, wenn Sie den Spieß um 180 Grad herumdrehen und davon ausgehen, dass hier exakt die Person auf dem Posten ist, die ihn am Besten ausfüllt. Lassen wir offizielle Titel und Arbeitsplatzbeschreibungen einen Moment beiseite, und schauen wir nur auf das Ergebnis ihres Tuns – Was ist dann der Job?
Falls die Auftragserfüllung erst am Anfang steht oder noch im Werden ist, lässt sich das möglicherweise nicht so genau sagen. Dann betrachten wir den laufenden Vorgang. Welche Früchte hat er bisher hervorgebracht? In welche Richtung laufen die Dinge, wenn es so weitergeht? Legen Sie die Mosaik-Steinchen zusammen, die bisher sichtbar sind: Zeichnet sich ein schlüssiges Bild ab? Lassen Sie Ihre Überzeugung vom Versagen einen kurzen Augenblick lang beiseite. Was gibt es sonst für Möglichkeiten, warum das gerade geschieht, was Sie eben beobachten?
Am Versagen gescheitert
Vor vielen Jahren wurde ich für einen Millionenauftrag in der IT-Branche als Projektleiterin eingesetzt – ohne Ausbildung oder Erfahrung in dem Metier. Ich kam aus dem Marketing und hatte Freude am Texten. Ein ehrgeiziger Mensch hätte die Chance vielleicht verlockend gefunden, sich in so einer wichtigen Position beweisen zu dürfen. Mich musste man mit Drohungen dazu bringen, dass ich den Job annehme. Entgegen aller Erwartungen habe ich das mir übertragene Projekt erfolgreich abgeschlossen – im Budget, termingerecht und zur großen Zufriedenheit des Kunden. Als man mich danach trotzdem absägte, habe ich die Welt nicht verstanden.
Erst Jahre später war mir klar, dass man einen No-Name mit dem Projekt gegen die Wand fahren lassen wollte, um es unter besseren Bedingungen mit meinem bereits eingestellten Nachfolger wie Phoenix aus der Asche auferstehen lassen zu können. Heute muss ich herzhaft lachen über den Verlauf der Dinge. Mein Scheitern war eingeplant und ich hatte das Drehbuch nicht gelesen! So habe ich live und in Farbe erlebt, dass der vordergründige Erfolg nicht immer das eigentliche Ziel ist. Und nicht jedes Bauernopfer in das Spiel eingeweiht wird.
Wir machen es uns ein bisschen zu leicht, wenn wir behaupten, jemand taugt für seine Stelle nicht. Was im Berufsleben zutrifft, gilt auch privat und gesamtgesellschaftlich. Lassen Sie die Leute nicht so einfach in die Narrenfreiheit entkommen. Manche mögen keine Ahnung haben, welche Rolle ihnen zugedacht ist, aber bestimmt nicht alle.
Gründe für das Menschenbild
Warum schlucken viele die Erklärung, dass jemand seiner Aufgabe trotz aller Anstrengung nicht gerecht werden kann, so rasch und arglos? Was sagt das über ihr Menschenbild aus? Wie erleben sie sich und wie erleben sie ihre Mitmenschen?
„Schwäche“ ist das erste Wort, das mir in den Sinn kommt.
Wenn ich davon ausgehe, mein Chef (wahlweise mein Vermieter, der Bürgermeister, der Polizist, der Lehrer, der Pastor, der Politiker etc.) sei ein Trottel, trifft möglicherweise genau das zu. Wenn mir allerdings immer wieder unfähige Vorgesetzte begegnen, kann das auch auf ein gespaltenes Verhältnis zu Autoritätspersonen im Allgemeinen hinweisen. Da lohnt sich vermutlich ein Blick auf die Beziehung zum eigenen Vater, die noch zu befrieden ist. Oft reicht es schon, sich der Verwechslung bewusst zu werden: „Der Mann ist mein Chef und nicht mein Vater. Ich bin seine Mitarbeiterin und nicht seine Tochter.“
Vielleicht reicht das Thema aber noch tiefer. Durch frühere Erfahrungen von Ohnmacht kann der unbewusste Dauereindruck bleiben, dass man selbst nicht in der Lage ist, etwas zu bewirken, eine Situation zum Guten zu wenden und das eigene Leben zu gestalten. Traumata hinterlassen solche Spuren. Wenn dann jemand ein „Yes, we can“ Plakat aufspannt, lockt er uns mit unserem begehrtesten Zaubertrunk. O ja: Genau das wünschen wir uns sehnlichst – ein Gefühl von „Ich kann“ oder „Wir schaffen das“.
Solchen anscheinend starken Gestalten laufen wir gerne hinterher. Sie geben uns scheinbar Halt und Hoffnung. Ihnen verzeihen wir fast alles. Dass sie nicht ganz koscher sind, wollen wir gar nicht wahrnehmen, erst recht nicht, wenn wir schon einiges für unseren Glauben an diese Leitfiguren geopfert haben. Auch wenn sie uns im Stich lassen, ihre Versprechen brechen und auf ganzer Linie versagen, begehren wir nicht gegen sie auf. Wir zucken nur mit den Achseln und verfallen in eine depressive Resignation. Warum? Wir haben es ja schon immer gewusst: Versagen und Unfähigkeit sind in der Welt – in uns selbst und in anderen.
Wie es bei vielen von uns um die Selbstwertschätzung bestellt ist, haben wir in einem meiner letzten Beiträge besprochen. In Zusammenhang mit der Bewertung von schädlichem Verhalten einer Führungskraft, hat das manchmal merkwürdige Auswüchse. Wenn es nicht so tragisch wäre, müsste man darüber lachen: Wir schämen uns für unser eigenes Unvermögen und verzeihen anderen das ihre. Wir nehmen unseren ehemaligen Helden in Schutz, nicht trotz, sondern gerade weil er jetzt vom Sockel gestürzt ist. Manche sind ganz erleichtert, dass sie es nicht waren, die eine schwierige Entscheidung falsch getroffen und damit eine Katastrophe ausgelöst haben. Zwar steht jetzt allen die Kacke bis zum Hals, aber wenigstens ist jemand anders schuld und nicht man selbst. Dem Fehlentscheider kann man dafür sogar noch dankbar sein. Das ist auch eine Logik.
Jahrhunderte alte Weisheit
Es wird höchste Zeit, dass wir ein gesundes Verhältnis zu unseren eigenen Fähigkeiten entwickeln. Nur dann können wir durchschauen, ob jemand sich dumm stellt, ohne dem Armen auch noch Trost spenden und Mut zusprechen zu wollen. Gleichzeitig sollten wir unsere gewohnheitsmäßige Empörung loslassen, auch wenn sie sich noch so erhaben anfühlt. Sie führt zu nichts Gutem. Wer sich über das Versagen anderer ereifert, verschleiert die eigenen (echten oder eingebildeten) Defizite und stellt sich moralisch über andere. Ein nüchterner Blick auf das, was tatsächlich gerade geschieht, ist vonnöten.
Glauben Sie mir: Die Leute sind nicht halb so bescheuert, wie man denken könnte. Unsereiner hat wenig Erfahrung in taktischen Spielchen und durchblickt sie einfach nicht.
Falls es Sie interessiert, warum Anführer sich zuweilen in einer schier unerträglichen Schwäche darstellen, lesen Sie doch einmal die uralten Weisheiten asiatischer Heerführer in Sunzi: „Die Kunst des Krieges“. Das schmale Büchlein hat über die Jahrhunderte nicht das Geringste an Aktualität verloren. Seine Lektüre kann sehr erhellend sein. In diesen trickreichen Winkelzügen sind höchstwahrscheinlich alle Herrscher bis zur heutigen Zeit unterrichtet.
Text und Foto: Petra Weiß
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Zur Autorin
Petra Weiß ist Heilpraktikerin und psychologische Beraterin. Ihre Liebe zur Sprache begleitet sie schon ihr Leben lang. Sie hat zahlreiche Beiträge in Print und Online veröffentlicht. Seit Sommer 2020 gibt Sie die Zeitschrift “Weißheiten: vom Ich zum Selbst” heraus.