In der Reihe “Sie baden gerade Ihr Gehirn darin…” beleuchten wir rhetorische Tricks, die der Deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer in seinem Buch “Die Kunst Recht zu behalten” zusammengefasst hat. Wir haben in früheren Beiträgen schon zahlreiche Kunstgriffe besprochen. Sie finden einige davon in der Rubrik Manipulative Muster erkennen.
Hat man sich bis hierher durch Schopenhauers Buch gearbeitet, könnte man den Eindruck gewonnen haben, er hätte gegen Ende die Lust an detaillierten Erklärungen verloren. Seine Texte werden immer kürzer. Und dann kommt der Kunstgriff mit der Nummer 30. Über mehrere Seiten erstrecken sich die Erläuterungen für einen Punkt, der inhaltlich diese Ausführlichkeit nicht gebraucht hätte. Daher gehe ich davon aus, dass er diesem Phänomen aufgrund seines gehäuften Auftretens, der Vielseitigkeit seiner Verwendungsmöglichkeiten und / oder der verheerenden Auswirkungen seines Gebrauchs besondere Bedeutung beimisst.
Weiter vorne haben wir schon den Kunstgriff kennengelernt, eine Autorität zu zitieren, statt sich mit guten Argumenten zu bewaffnen. Viele von uns neigen dazu, irgendwelchen Gurus im Zweifel mehr Glauben zu schenken als unserem eigenen gesunden Menschenverstand. Allzu rasch sind wir bereit, ein Fachgebiet als zu komplex anzusehen, um mit unseren laienhaften Kenntnissen und unserem begrenzten Wissen etwas beurteilen zu können. Daher geben wir gerne die Verantwortung für das Bewerten an sogenannte Experten ab.
In diesem Kunstgriff geht es speziell um das „Expertentum“, das scheinbar in der Akzeptanz einer Meinung durch die breite Öffentlichkeit liegt. So als könne sich zwar der Einzelne täuschen, aber die Masse irre nie. Wie wir in der Geschichte immer wieder gesehen haben, ist das ein abscheulicher Aberglaube. Dennoch erfreut sich die Ansicht, etwas müsse für wahr gelten, weil viele Menschen es für richtig halten, weiterhin großer Beliebtheit. Es kann doch nicht sein, dass so viele Menschen falsch liegen! Oh, doch. Das kann es.
Hat sich ein falscher Glaube in der Gesellschaft breitgemacht und wurden die ersten Fachleute in aller Öffentlichkeit dafür angeprangert, dass sie andere Meinungen geäußert haben, führt kaum mehr ein Weg zurück in eine ergebnisoffene Diskussion. Durch das Vertreten einer eigenwilligen Ansicht riskiert jeder Kritiker den Ausschluss aus der Gemeinschaft, Schmach und Schade. Der Meinungskorridor verengt sich zunächst unmerklich und dann unaufhaltsam immer weiter. Ist der Teufelskreis erst einmal in Gang gesetzt, muss schon viel passieren, damit sich die Massen zur Besinnung bringen lassen. Das Widerrufen der offensichtlich falschen Postulate allein reicht bei fortgeschrittenen Prozessen dieser Art selten aus.
Schopenhauer tat gut daran, dem Thema ein umfangreiches Kapitel zu widmen. Der Propaganda-Spezialist Gustave le Bon hat die „Psychologie der Massen“ 1895 in seinem gleichnamigen Buch beschrieben. Heute spricht man in der Sozialpsychologie von Massenformung oder Mass Building. Gemeint ist die Einflussnahme auf das Denken und Handeln der Menschen in großem Stile. Die Autorität der Vielen spielt dabei eine zentrale Rolle.
Kehren wir zurück zum Esstisch: Der Junge beruft sich auf Generationen von Kindern, die ihren Spinat nicht essen wollen. Die Erwachsenen müssen sich sogar Comics wie Poppey ausdenken, um den Verzehr des grünen Blattgemüses attraktiv erscheinen zu lassen. Etwas kann mit dem Spinat nicht stimmen, wenn man zu solchen Tricks greifen muss, weil kein normales Kind jemals freiwillig Spinat gegessen hat. Milliarden von Spinathassern weltweit können doch nicht irren…
Quelle: “Perlentaucher der Redekunst – Manipulative Muster erkennen – bei sich und bei anderen” – ein psychologischer Reisebegleiter auf dem Weg zum authentischen Selbstausdruck von Petra Weiß. Das Buch erscheint voraussichtlich im Herbst 2022 bei BoD.
Text: Petra Weiß
Foto: Stephanie Hofschlaeger / PIXELIO
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