Kommentar von Petra Weiß. Lesedauer ~ 7 Minuten
Rubrik: Im Lichte der Geschichte
Während sich Politiker gegenseitig (und selbst) anerkennend auf die Schulter klopfen, denke ich an die psychologischen Folgen historischer Ereignisse und möchte sie aus meinem ganz persönlichen Blickwinkel beleuchten.
Ich erinnere mich genau, wie mein Lehrer im Politik Leistungskurs im Schuljahr 1988/1989 die Klasse fragte, für wie wahrscheinlich wir eine Wiedervereinigung hielten. Meine Antwort war klar: Wünschenswert, aber unwahrscheinlich. Vielleicht irgendwann in ferner Zukunft, da müsste sich aber noch vieles ändern.
Wir hatten gerade das Grundgesetz studiert und die Unterschiede zwischen dem freiheitlich demokratischen System im Westen und der kommunistischen Knechtschaft im Osten gelernt. Das schien mir so gar nicht zusammengehen zu wollen.
Wenige Monate später fiel die Mauer. Ich war tief berührt und habe geweint. In meiner jugendlichen Naivität war die Grenzöffnung für mich ein Symbol der Brüderlichkeit. Die Erleichterung der vormals gewaltsam getrennten Menschen erfasste mich wie eine Woge der Euphorie. Ein Wunder war geschehen. Endlich waren Familien wieder vereint, eine Diktatur war beendet und Menschen wieder frei. Den 3. Oktober habe ich viele Jahre lang in diesem Sinne als Feiertag erlebt.
Später habe ich einigen Menschen „aus dem Osten“ kennengelernt. Durch sie gewann ich Einblicke in Schicksale, die eine andere Seite der Medaille zeigen.
Die Tochter eines Stasi-Mitarbeiters erzählte mir, wie ihre Familie aus heiterem Himmel alle Privilegien verlor. Zu Recht, werden Sie vielleicht sagen. Dennoch ist das für ein Kind verstörend. Sie musste ohne Vorlauf das Internat verlassen und wusste nicht, wie es weitergehen würde. Der Vater wurde inhaftiert. Mit der Wende fehlten der Familie von jetzt auf gleich die Existenzgrundlage und der gesellschaftliche Status. Aus psychologischer Sicht ist dieser Bruch in der Biografie prägend. Eben gehört man noch zur Elite und erlebt das als Alltagsnormalität, im nächsten Moment findet man sich am Rand der Gesellschaft wieder. Wie mag sich das auf das Mädchen ausgewirkt haben?
Der Sohn eines Arbeiters berichtete davon, dass er als Teenager an den Montagsdemonstrationen teilgenommen hatte. Als dann die ersehnte Wende kam, hat sein Vater die Veränderungen nicht verkraftet. Sein hart verdientes Geld war plötzlich nichts mehr wert. Alles, woran er geglaubt hatte, zerfiel von einem Tag auf den nächsten zu Staub. Die Ideologie, welche sein ganzes Leben lang Grundlage seiner Welt war, galt plötzlich als falsch. Der Mann wurde alkoholkrank und lebte zeitweise obdachlos auf der Straße, während seine Frau putzen ging, um die beiden Kinder durchzubringen. Wie mag sich das auf den jungen Mann ausgewirkt haben, der selbst daran mitgewirkt hatte, dass genau diese Veränderung erreicht wurde, an der sein Vater zerbrach?
Das Ende der DDR war nicht für alle ein Grund zum Feiern.
Am Tag der Wiedervereinigung gedenke ich derjenigen, die Opfer gebracht haben, um in Einigkeit und Recht und Freiheit zu leben. In meiner traumatherapeutischen Praxis erfahre ich, wie es manchen von ihnen heute geht:
Die Tochter einer Republikflüchtigen beschrieb ihr Leid, als Teenager von der Mutter verlassen worden zu sein. Sie ist wütend und verzweifelt, weil ihr dieses Opfer nun sinnlos erscheint in Anbetracht der politischen Entwicklungen.
Das Kind eines Widerständlers hatte immer wieder einschüchternde Hausdurchsuchungen miterleben müssen. Diese Grenzverletzungserfahrungen sitzen tief. Als erwachsener Mensch hat es jetzt Angst vor Kontrollen durch das Ordnungsamt.
Eine Frau, die als Jugendliche ohne jeglichen Besitz mit ihrer Familie in den Westen geflüchtet war, schaltet in den Anpassungsmodus um. Sie denkt, dass sie jetzt wieder zwei Meinungen braucht: eine öffentliche und eine private.
Ich finde das traurig. Heute. 30 Jahre danach. Wir dürfen alle gespannt sein, welche Spuren die jetzige Zeit hinterlassen wird.
In meiner Praxis beobachte ich, dass aktuell viele Traumareaktivierungen stattfinden. Das kann sehr krisenhaft sein, aber darin liegt auch eine Chance. Zu mir kommen immer mehr Menschen, die ihre schlimmen Erlebnisse jahrzehntelang gedeckelt hatten. Jetzt geht das nicht mehr. Bedrohungen – reale und eingeredete – lauern an jeder Ecke. Als Folge ergreifen Wut, Angst oder Lähmung die Menschen mit der vollen Wucht von damals. In diesem akuten Zustand drängen die chronischen Verletzungen auf Heilung.
Ich wünsche mir, dass diese Krise als Katalysator für die Entwicklung des Einzelnen und somit auch für den Bewusstseinsprozess der Menschheit dient. Wenn wir jetzt aus der Not heraus gezwungen sind, den alten Schmerz anzuschauen und die Wunden sauber zu versorgen, dann hat das Ganze langfristig einen Sinn. Lösen wir unsere Traumata, dann müssen wir das Leid nicht von Generation zu Generation immer weiterreichen. Diese Aussicht gibt mir Hoffnung.
Falls Sie nach dem schweren Stoff etwas zur Erheiterung brauchen, lege ich Ihnen den Film „Good bye Lenin“ ans Herz. Es ist wichtig, dass wir unseren Humor nicht verlieren.
Text: Petra Weiß
Foto: Stiftung Berliner Mauer
Danke schön
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