Der Schwarze Contergan-Peter

Jahrestage nehme ich immer gerne zum Anlass, in die Vergangenheit zu blicken, um daraus Erkenntnisse für die Gegenwart zu gewinnen.

Am 1. August 1961 wurde das Beruhigungsmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid rezeptpflichtig. Zuvor war es für jedermann ohne ärztliche Verschreibung in der Apotheke erhältlich. Es dauerte noch bis zum 27. November 1961, bis Contergan endlich verboten wurde, obwohl der Bundestag bereits am 14. Mai 1958 eine fruchtschädigende Wirkung des Mittels neben anderen möglichen Ursachen diskutiert hat. Nachdem man zunächst gar nicht zugeben wollte, dass es überhaupt eine Häufung von Fehlgeburten und Fehlbildungen gab.

Wie alles begann

Die Vorgeschichte liest sich wie ein Bericht aus dem Sommerferien-Camp von Jugend forscht: Contergan wurde 1954 von drei deutschen Wissenschaftlern für das Unternehmen Chemie Grünenthal in Nordrhein-Westfalen entwickelt. Im Tierversuch zeigte es keinerlei Wirkung – weder erwünschte noch unerwünschte. Dann wurde das Medikament an Epilepsie Patienten getestet. Dort stellte sich heraus, dass es sich als Beruhigungsmittel einsetzten lies. Als solches wurde Contergan von 1957 bis 1961 vermarktet. Da es unter anderem bei Schwangerschaftsübelkeit helfen sollte, nahmen viele werdende Mütter die Arznei arglos ein.

Die Missbildungen der unter Contergan-Einfluss gereiften Babys schrieb man zunächst den Nachwirkungen von Atomwaffentests zu. Nachforschungen über die wahre Ursache wurden durch ideologische Fallstricke behindert, die man heute political correctness nennen würde: Das Erfassen von Missbildungen bei Neugeborenen brachte man mit rechten Gesinnungen in Verbindung. So wurde das Ausmaß der Katastrophe erst viel zu spät sichtbar.

Ende 1960 wandte sich ein Arzt mit einem Leserbrief in einem renommierten Zeitschrift an die Fachschaft und stellte den Zusammenhang zwischen dem Contergan-Wirkstoff und neuronalen Schäden her, was Chemie Grünenthal zunächst bestritt. Fast ein ganzes Jahr lang blieben die Verdachtsmomente ohne angemessene Konsequenzen, selbst die Rezeptpflicht wurde nur schleppend in den verschiedenen Bundesländern umgesetzt. Zuletzt in Bayern am 1. Januar 1962. Obwohl einige Wissenschaftler die Nebenwirkungen längst erkannt hatten und entsprechende Beiträge in angesehenen medizinischen Magazinen publiziert waren.

Verspätete Aufklärung

Die breite Öffentlichkeit lies man so lange im Unklaren darüber, dass es überhaupt ein Problem gab, bis es per Verbot der Arznei gar nicht mehr zu leugnen war. Ende November 1961 titelte die WELT: „Mißbildungen durch Schlaftabletten?“ Und am 6. Dezember 1961 las man dann auch im Spiegel: „Bis zum Montag vergangener Woche wußten die Bundesbürger nichts von der ‚Mißbildungs-Epidemie“

Die mit der Aufklärung beauftragten Fachleute versuchten, die Schuld den Müttern in die Schuhe zu schieben, die sich angeblich nicht gesund genug ernährt hätten. Da kann einem schon übel werden – mit und ohne Schwangerschaft.

Traurige Zahlen und solche die fehlen

Allein, dass es bis heute keine konkreten Daten gibt, erzeugt bei mir einen Würgereiz. Von 5.000 bis 10.000 Kindern ist die Rede. Was für ein Zynismus! Als mache es keinen Unterschied ob 5.000 Menschen mehr oder weniger von derart lebensbeeinträchtigenden Umständen betroffen seien. Und betroffen von solchen Schicksalsschlägen ist nicht nur der beeinträchtigte Mensch, sondern seine ganze Familie.

Die Anzahl der durch das Medikament im Mutterleib verstorbenen wird nicht einmal geschätzt. Nicht nur, dass ein Mensch nicht ins Leben kam – für viele Schwangere ist der Verlust ihres ungeborenen Kindes traumatisch und hat zum Teil jahrzehntelange Nachwirkungen, die ihr, dem Kindsvater und auch den Spätergeborenen zu schaffen machen.

Bei der systemischen Familientherapie zeigt sich immer wieder, wie dramatisch einerseits Verluste im Mutterleib sein können und andererseits wie folgenreich es sogar für die ganze Sippe der „Täter“ ist, dass jemand (auch unabsichtlich) den Tod eines Menschen herbeigeführt hat. Derartige Schuld wird unbewusst manchmal über Generationen hinweg gesühnt.

Auf die Anzahl der heute noch lebenden kann man nur mittels der bekanntgegebenen Schadenersatzzahlungen schließen. Mindestens 6.880 sind so schwer fehlgebildet, dass sie jetzt noch monatliche Zahlungen aus einem Fonts erhalten, der teils von den verursachenden Pharmaunternehmen, teils von uns Steuerzahlern getragen wird.

Im August 2020 (!) kam erst heraus, dass in einem Krankenhaus, das von der Caritas betrieben wurde, 1960 Versuche an Säuglingen und Kindern mit Contergan gemacht wurden. Der offizielle Tenor mit meinen Worten wiedergegeben: Oh, das kann man sich gar nicht erklären, wie es dazu wohl nur gekommen sein mag. Aber natürlich tut es einem leid. Das war‘s. Keine Untersuchung, keine Daten.

Offensichtlich will es niemand so genau wissen, wenn medizinische Fehleinschätzungen bleibenden Schaden anrichten. Schwamm drüber.

Maßnahmen aus dem Schlamassel

Damit so etwas nie wieder geschieht, wurde die Zulassung medizinischer Wirkstoffe streng reglementiert. Als Maßnahme aus den leidvollen Erfahrungen verlangen die Behörden von den Pharmaunternehmen, die Wirkung sowie unerwünschte Nebenwirkungen der Medikamente unter Laborbedingungen zu untersuchen, bevor sie für den Einsatz am Patienten freigegeben werden. Der Ablauf solcher Zulassungsverfahren ist im Detail geregelt.

Es gibt nur sehr wenige Ausnahmen, die erlauben, dass eine vom Standardvorgehen abweichende Notzulassung erteilt wird. Lebensbedrohliche Gefahr im Verzug und eine positive Einschätzung zur Nutzen-Risiko-Bilanz ermöglichen, dass zugunsten der sofortigen Verfügbarkeit eine Zulassung erteilt wird, ohne dass alle üblicherweise erforderlichen Studien abgeschlossen sind. Auf jedem Fall muss ein akuter Bedarf an einer solchen Arznei bestehen. Sie wird dringend gebraucht und kein bereits zugelassenes Medikament kann die Gefahr der betreffenden Erkrankung abwenden.

Um die restlichen Studienergebnisse einzureichen hat der Antragsteller dann 12 Monate Zeit. Währenddessen hat die Arznei eine „bedingte Zulassung“. Sie ist also zugelassen, aber eben nur „bedingt“.

Die bedingte Zulassung läuft nach einem Jahr aus. Wenn die nachgereichten Studienergebnisse die Wirksamkeit und Sicherheit der Arznei belegen, kann die Zulassung zunächst um 5 Jahre verlängert werden, bevor sie dann ggf. ohne Zeitbeschränkung erteilt wird.

Die Daten der im Rahmen des „Feldeinsatzes“ mit dem Notfallmedikament behandelten Patienten werden nicht systematisch erhoben und ausgewertet. Sie sind insofern nicht Teil einer Studie und ihre Erfahrungen fließen nicht in die Zulassungsbewertung ein. Das ist eigentlich schade. So gehen wertvolle Erkenntnisse verloren.

Verständnis aus psychologischer Sicht

Wenn ich heute auf die Ereignisse zurückblicke, kann ich für alle Beteiligten Verständnis entwickeln. Ich verstehe, dass Wissenschaftler die Früchte ihrer fleißigen Arbeit gerne der Welt zur Verfügung stellen wollen. Auch kann ich nachvollziehen, dass ein Unternehmen nach der aufwändigen Entwicklung eines Medikaments mit dem Präparat Geld verdienen will und muss.

Falls dann schwerwiegende Folgen zutage treten, möchte niemand daran die Schuld tragen. Wer will schon für dem Tod von ungeborenen Babys und die Fehlbildungen von Neugeborenen verantwortlich sein? Ich kann verstehen, dass Grünenthal jeden Zusammenhang mit ihrem Produkt abstritt. Von den drohenden finanziellen Konsequenzen mal ganz abgesehen, die bestimmt niemand tragen wollte.

Wohin mit der Schuld?

Statt der Wahrheit ins Auge zu blicken, wird der Schwarze Peter hin und her geschoben. Lieber nimmt man an, eine abstrakte und entfernte Ursache wie radioaktive Strahlung sei verantwortlich als ein von bestimmten Menschen hergestelltes, vermarktetes und gekauftes Produkt.

Ich könnte mir vorstellen, dass auch einige der Mütter gerne den Erklärungen Glauben schenkten, Atomwaffen seien die Ursache des Übels und nicht die von ihnen gutgläubig eingenommen Arzneien. Selbst dieser vergleichsweise kleine Beitrag zu dem schweren Schicksal ist für einen Menschen kaum zu ertragen.

Das Unterdrücken der Vermutung, Contergan könne ursächlich an den Fehlbildungen beteiligt sein, ist wissenschaftlich fatal und gesellschaftlich kann man es natürlich nicht vertreten.

Aus psychologischer Sicht ist die Nicht-Reaktion von Ärzteschaft und Medien dennoch verständlich. Noch keine Generation war vergangen, da hatten Ärzte sich blutige Hände geholt an den ideologisch gefärbten Vorstellungen von „unwertem“ Leben. Lieber kniff man beide Augen kräftig zu als auch nur im Entferntesten den Eindruck einer Nazi-Haltung zu erwecken. Wer hätte sich schon einem grollenden Sturm der Empörung stellen wollen?

Der Versuch, den ohnehin schon von Schuldgefühlen geplagten und mit den praktischen Ergebnissen des misslungen Menschen-Experiments belasteten Müttern die Verantwortung zuzuweisen, brachte vermutlich die Wendung. Muttis fühlen sich sowieso immer schuldig, wenn in der Schwangerschaft oder bei der Geburt ihres Kindes irgendetwas schief läuft und machen sich zeit ihres Lebens Vorwürfe. Das konnten die Frauen nicht mehr dulden – und ihre Ärzte auch nicht.

Zwar hatte man die Mediziner durch die Rezeptpflicht zu Mitschuldigen gemacht und damit die Aufklärung erheblich erschwert. Wer verwickelt ist in solch ein Verbrechen, wird weder sich selbst noch seine Standesgenossen anklagen und wohl kaum als Zeuge belasten. Doch letztlich waren Gewissen und Moral entscheidend.

Mehrere Mutige hat es gebraucht, um den Stein endlich ins Rollen zu bringen: einen beherzten Arzt, einen unerschrockenen Chefredakteur und letztlich Juristen, die sich von Macht und Geld nicht beeindrucken ließen.

Die Lehre aus dem Contergan-Skandal

Forscher haben gelernt, dass man jede Verantwortung abgeben kann, wenn man sich an die behördlichen Vorschriften hält. Arzneimittelhersteller haben gelernt, dass sie die Haftung für Medikamente ohne reguläre Zulassung besser nicht übernehmen sollten. Die Presse hat gelernt, dass es ihr niemand dauerhaft übel nimmt, wenn sie unliebsame Wahrheiten verschweigt. Politiker haben gelernt, dass es immer gut ist, einen Sündenbock parat zu haben.

Was haben wir alle gelernt?

Wir haben erlebt, dass das Undenkbare geschehen kann. Wir haben gesehen, wie unmöglich es für manche Menschen ist, ihre Verantwortung zu übernehmen, wenn die Folgen ihrer Entscheidungen derart schwerwiegend sind. Wir konnten verfolgen, dass die Schuldigen lieber mit wehenden Fahnen weiter in die falsche Richtung rennen, als (sich und anderen gegenüber) ihre unverzeihlichen Fehler einzugestehen.

Wenn wir daraus nichts gelernt haben, war das Leid der Contergan-Geschädigten, die Bürde der Verursacher und der Mitschuldigen an der verzögerten Aufklärung vergebens.

Text: Petra Weiß
Foto: Kolja Fleischer  / pixelio.de

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Schreibkunst Redakteur PR-Text
Petra Weiß ist Heilpraktikerin und psychologische Beraterin. Ihre Liebe zur Sprache begleitet sie schon ihr Leben lang. Sie hat zahlreiche Beiträge in Print und Online veröffentlicht. Seit Sommer 2020 gibt Sie die Zeitschrift “Weißheiten: vom Ich zum Selbst” heraus.

Es ist doch nur eine Armbinde.

Lesedauer ~10 Minuten
Rubrik: Im Lichte der Geschichte

Vergangene Nacht jährten sich die November-Progrome von 1938. Menschen wurden ermordet, eingesperrt und bestohlen. Viele verloren ihre wirtschaftliche Existenz, ihre Freiheit und ihr Leben. Geschäfte und Privatwohnungen wurden zerstört. Gotteshäuser verwüstet und Friedhöfe geschändet. Mindestens 300 Menschen nahmen sich – aus Verzweiflung oder Weitsicht – das Leben. Danach begann der systematische Völkermord.

Wie konnte es so weit kommen? Das fragt man sich heute und man wird sich dieselbe Frage immer wieder stellen, wenn große Krisen die Eigenschaften der Menschen sichtbar machen: die guten wie die üblen. Ich möchte ein Licht aus meiner psychologischen Sicht auf die Entwicklungen werfen, die zu diesen Geschehnissen führten. Es wäre vermessen, die komplexen Zusammenhänge im Rahmen eines Beitrags umfänglich darstellen zu wollen. Daher richte ich mein Augenmerk auf ein paar wenige Aspekte, die mich dieser Tage besonders beschäftigen.

Im Vorfeld der Ereignisse hatten die politischen Akteure eine passende Rechtsgrundlage geschaffen. Wer Jude war, definierte ein Gesetz. Die Beweislast wurde umgekehrt: Man musste einen Ariernachweis erbringen, im Volksmund „Persilschein“ genannt, um sich von dem Verdacht reinzuwaschen, jüdisch zu sein. Den Juden und auch anderen Gruppen wurden nach und nach ihre Menschenrechte aberkannt. Das meiste Unrecht geschah gemäß geltendem Recht.

Gute Menschen halten sich prinzipiell an Gesetze – wie absurd ihr Inhalt auch sein mag. Ihre Beweggründe liegen auf der Hand: Die Alternative zu verbindlichen Regeln ist Anarchie. Im Chaos will niemand leben. Besser alle halten sich an fragwürdige Vorgaben als an gar keine. Die Menschen stehen unter sozialem Druck, sich so zu gebärden wie die anderen Gesetzestreuen, um dazu zu gehören. Sie haben Angst vor einer Strafe, die sie selbst oder ihre Familie in Schwierigkeiten bringen könnte. Und sie können sich der Illusion hingeben, sie hätten keine Verantwortung für ihr Handeln, was in jeder Lebenslage ein fataler Irrtum ist. Handeln auf Befehl war noch nie frei von Verantwortung – unabhängig von der Rechtsprechung.

Zum Zwecke der Kennzeichnung mussten Juden Armbinden tragen. Diese im Vergleich zu den späteren Entwicklungen scheinbar harmlose Verordnung war der Anfang vom Ende. So waren die „Aussätzigen“ für jeden schon von weitem leicht erkennbar. Repressalien durch die allgegenwärtigen Staatsdiener und Diskriminierung durch die selbsternannten Hüter der Ordnung waren alltäglich.

Natürlich gab es auch Nicht-Juden, die das als Ungerechtigkeit empfanden. Die Sympathisanten standen in dem Risiko, ebenfalls bestraft und aus ihren bürgerlichen Kreisen ausgeschlossen zu werden. Man nannte sie abwertend „Judenfreunde“. Es gab eine Kontaktschuld: Man konnte sich mit diesen Menschen nicht treffen, ohne sich selbst schuldig zu machen. Sogar die „falsche“ Gesinnung von Freunden der Freunde barg eine latente Gefahr für Leib und Leben.

Das Prinzip „DIE und WIR“ spaltete Familien, Freunde, Kollegen und Nachbarn. Diese Spaltung ist die Grundlage eines jeden Terrors. Ohne sie wäre es nicht möglich, Menschen zu quälen, damit ein paar empathielose Psychopathen daraus irgendeinen Nutzen ziehen.

Die Propaganda hatte ganze Arbeit geleistet. Das ständige Wiederholen derselben Narrative hatte dafür gesorgt, dass Juden als Ursache allen Übels bei einem großen Teil der Gesellschaft verhasst waren. Sie waren schuld – am Krieg, an der Armut, an der politischen Krise. Einfach an allem. Hier wurde die berechtigte Empörung der Menschen über ganz andere Probleme gezielt gelenkt. Der Trick ist genauso alt wie effektiv. Er funktioniert immer wieder. Das Wir-Gefühl erstarkt mit einem gemeinsamen Gegner. Man bestätigt sich gegenseitig die Berechtigung für das vereinte Handeln und trägt die Flagge der „Solidarität“ als Rechtfertigung für grausame Taten vor sich her. Der staatstreue Bürger fühlte sich im Recht, wenn er Juden ausgrenzte oder beschimpfte. Später sah man folgerichtig weg, wenn die zuvor Diffamierten weggebracht wurden oder man hielt es sogar für eine gute Sache.

Statt sich zu fragen, ob all diese Behauptungen stimmten, waren die Leute damit beschäftigt, ihre Existenz zu sichern, entlastende Dokumente zu beschaffen und für Lebensmittel anzustehen. Zum Hinterfragen war keine Zeit. Außerdem war es gefährlich, die Autoritäten infrage zu stellen.

Man hatte zwei Meinungen: eine private und eine öffentliche. Zensur erfolgte überall. Wie viele Wahrheit damals verloren ging, werden wir wohl nie erfahren. Ironischerweise darf betreffend dieser Epoche heute keine vom offiziellen Narrativ abweichende Meinung geäußert werden. Das wäre strafbar. Manchmal hat das Schicksal einen schrägen Humor.

Weil so viel Normales verboten war, wurden normale Bürger zu Gesetzesbrechern. Diese konnte man jetzt mit reinem Gewissen anzeigen. Als Denunziant fühlt man sich moralisch überlegen, während man jemanden für ein im Grunde unwesentliches Vergehen in die Pfanne haut.

Je ohnmächtiger sich der einfache Mann fühlte, desto verlockender war es, am Machtsystem teilzunehmen. Ein kleiner Hinweis an den Blockwart und der unliebsame Nachbar, der Konkurrent um einen Arbeitsplatz oder der Ehemann der Geliebten konnte in Schwierigkeiten gebracht werden. Wie überaus praktisch! Der Betroffene musste noch nicht einmal wirklich etwas falsch gemacht haben. Es reichte, wenn man etwas völlig aus der Luft Gegriffenes behauptete, um eine Lawine der Schikane loszutreten. Für falsche Anschuldigungen wurde niemand zur Rechenschaft gezogen.

Ein psychologisch brillanter Schachzug der NS-Regierung – vielleicht sogar der entscheidende – war es, die Allgemeinbevölkerung am Raub zu beteiligen. Die von Juden gestohlenen Gegenstände, ihre Häuser, die Geschäftsbetriebe wurden spottbillig verkauft. Der Pelzmantel und die Lederhandschuhe der jüdischen Nachbarin, das edle Porzellan des jüdischen Chefs, Kunsthandwerk aus jüdischem Familienbesitz – plötzlich konnten sich Lieschen Müller und Franz Meier die begehrten Dinge leisten. Viele nutzten das einmalige Angebot und labten sich an den Überresten jüdischen Wohlstands. Ein Großteil der Bevölkerung lebte in existenzieller Abhängigkeit. Man fand Arbeit in den Giftgasfabriken, als Spitzel oder bei der SS. So macht man Mitläufer zu Profiteuren. Sie würden sich niemals gegen das Unrecht wenden oder es als solches überhaupt anerkennen, denn dann wären sie selbst Verbrecher und ihre Beute in Gefahr.

Es dient niemandem, dass wir in Gefühlen von Scham und Schuld versinken, wenn wir heute an die Opfer, Täter und Mitläufer denken. Lassen Sie uns lieber wachsam nach den Unterschieden zwischen damals und heute schauen.

“Wenn man eines aus der Menschheitsgeschichte lernen kann, dann ist es die Tatsache, dass Menschen aus ihrer Geschichte nichts lernen.” sagt angeblich ein Chinesisches Sprichwort. Mir wäre es sehr recht, diesen Text durch mein praktisches Erleben zu widerlegen.

Wir alle brauchen Antworten, wenn wir uns später fragen, was wir in unserem Leben getan haben und warum. Das nennt man Verantwortung. Unser Tun in Einklang mit den eigene Werten zu bringen, macht es leichter, dieser Verantwortung gerecht zu werden.

Dazu müssen wir uns unserer Werte bewusst werden, unsere Überzeugungen überprüfen und bereit sein, aus alten Denkmustern auszusteigen. Dieser Prozess bringt uns als Menschheitsfamilie weiter beim Erforschen unseres Bewusstseins. Wir können Perspektiven nachvollziehen, die uns vorher fremd waren. So halten Gnade und Vergebung Einzug in unsere Seelen – für andere und für uns selbst.

Der Blick in die Geschichte lohnt sich immer dann, wenn er uns dabei hilft, unser Bewusstsein zu wecken für das was heute und in Zukunft geschieht.

Text: Petra Weiß
Foto: Huskyherz / pixelio.de

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Zur Person

Schreibkunst Redakteur PR-Text

Petra Weiß ist als Heilpraktikerin mit ihrer Praxis für Homöopathie, Ganzheitsmedizin und Psychotherapie (HeilprG) in Weinheim niedergelassen. Parallel zu ihrer therapeutischen Arbeit ist sie als freie Journalistin im Ressort Medizin & Gesundheit tätig. Sie hat sich auf Naturheilkunde und Psychologie spezialisiert. Seit 2020 gibt sie das Online-Magazin Weißheiten: vom Ich zum Selbst heraus. Es dient der Entwicklung des Einzelnen in eine freies und selbstbestimmtes Leben und unterstützt somit den Bewusstseinsprozess der Menschheit.

Im Schatten der Einheit

Kommentar von Petra Weiß. Lesedauer ~ 7 Minuten
Rubrik: Im Lichte der Geschichte

Während sich Politiker gegenseitig (und selbst) anerkennend auf die Schulter klopfen, denke ich an die psychologischen Folgen historischer Ereignisse und möchte sie aus meinem ganz persönlichen Blickwinkel beleuchten.

Ich erinnere mich genau, wie mein Lehrer im Politik Leistungskurs im Schuljahr 1988/1989 die Klasse fragte, für wie wahrscheinlich wir eine Wiedervereinigung hielten. Meine Antwort war klar: Wünschenswert, aber unwahrscheinlich. Vielleicht irgendwann in ferner Zukunft, da müsste sich aber noch vieles ändern.

Wir hatten gerade das Grundgesetz studiert und die Unterschiede zwischen dem freiheitlich demokratischen System im Westen und der kommunistischen Knechtschaft im Osten gelernt. Das schien mir so gar nicht zusammengehen zu wollen.

Wenige Monate später fiel die Mauer. Ich war tief berührt und habe geweint. In meiner jugendlichen Naivität war die Grenzöffnung für mich ein Symbol der Brüderlichkeit. Die Erleichterung der vormals gewaltsam getrennten Menschen erfasste mich wie eine Woge der Euphorie. Ein Wunder war geschehen. Endlich waren Familien wieder vereint, eine Diktatur war beendet und Menschen wieder frei. Den 3. Oktober habe ich viele Jahre lang in diesem Sinne als Feiertag erlebt.

Später habe ich einigen Menschen „aus dem Osten“ kennengelernt. Durch sie gewann ich Einblicke in Schicksale, die eine andere Seite der Medaille zeigen.

Die Tochter eines Stasi-Mitarbeiters erzählte mir, wie ihre Familie aus heiterem Himmel alle Privilegien verlor. Zu Recht, werden Sie vielleicht sagen. Dennoch ist das für ein Kind verstörend. Sie musste ohne Vorlauf das Internat verlassen und wusste nicht, wie es weitergehen würde. Der Vater wurde inhaftiert. Mit der Wende fehlten der Familie von jetzt auf gleich die Existenzgrundlage und der gesellschaftliche Status. Aus psychologischer Sicht ist dieser Bruch in der Biografie prägend. Eben gehört man noch zur Elite und erlebt das als Alltagsnormalität, im nächsten Moment findet man sich am Rand der Gesellschaft wieder. Wie mag sich das auf das Mädchen ausgewirkt haben?

Der Sohn eines Arbeiters berichtete davon, dass er als Teenager an den Montagsdemonstrationen teilgenommen hatte. Als dann die ersehnte Wende kam, hat sein Vater die Veränderungen nicht verkraftet. Sein hart verdientes Geld war plötzlich nichts mehr wert. Alles, woran er geglaubt hatte, zerfiel von einem Tag auf den nächsten zu Staub. Die Ideologie, welche sein ganzes Leben lang Grundlage seiner Welt war, galt plötzlich als falsch. Der Mann wurde alkoholkrank und lebte zeitweise obdachlos auf der Straße, während seine Frau putzen ging, um die beiden Kinder durchzubringen. Wie mag sich das auf den jungen Mann ausgewirkt haben, der selbst daran mitgewirkt hatte, dass genau diese Veränderung erreicht wurde, an der sein Vater zerbrach?

Das Ende der DDR war nicht für alle ein Grund zum Feiern.

Am Tag der Wiedervereinigung gedenke ich derjenigen, die Opfer gebracht haben, um in Einigkeit und Recht und Freiheit zu leben. In meiner traumatherapeutischen Praxis erfahre ich, wie es manchen von ihnen heute geht:

Die Tochter einer Republikflüchtigen beschrieb ihr Leid, als Teenager von der Mutter verlassen worden zu sein. Sie ist wütend und verzweifelt, weil ihr dieses Opfer nun sinnlos erscheint in Anbetracht der politischen Entwicklungen.

Das Kind eines Widerständlers hatte immer wieder einschüchternde Hausdurchsuchungen miterleben müssen. Diese Grenzverletzungserfahrungen sitzen tief. Als erwachsener Mensch hat es jetzt Angst vor Kontrollen durch das Ordnungsamt.

Eine Frau, die als Jugendliche ohne jeglichen Besitz mit ihrer Familie in den Westen geflüchtet war, schaltet in den Anpassungsmodus um. Sie denkt, dass sie jetzt wieder zwei Meinungen braucht: eine öffentliche und eine private.

Ich finde das traurig. Heute. 30 Jahre danach. Wir dürfen alle gespannt sein, welche Spuren die jetzige Zeit hinterlassen wird.

In meiner Praxis beobachte ich, dass aktuell viele Traumareaktivierungen stattfinden. Das kann sehr krisenhaft sein, aber darin liegt auch eine Chance. Zu mir kommen immer mehr Menschen, die ihre schlimmen Erlebnisse jahrzehntelang gedeckelt hatten. Jetzt geht das nicht mehr. Bedrohungen – reale und eingeredete – lauern an jeder Ecke. Als Folge ergreifen Wut, Angst oder Lähmung die Menschen mit der vollen Wucht von damals. In diesem akuten Zustand drängen die chronischen Verletzungen auf Heilung.

Ich wünsche mir, dass diese Krise als Katalysator für die Entwicklung des Einzelnen und somit auch für den Bewusstseinsprozess der Menschheit dient. Wenn wir jetzt aus der Not heraus gezwungen sind, den alten Schmerz anzuschauen und die Wunden sauber zu versorgen, dann hat das Ganze langfristig einen Sinn. Lösen wir unsere Traumata, dann müssen wir das Leid nicht von Generation zu Generation immer weiterreichen. Diese Aussicht gibt mir Hoffnung.

Falls Sie nach dem schweren Stoff etwas zur Erheiterung brauchen, lege ich Ihnen den Film „Good bye Lenin“ ans Herz. Es ist wichtig, dass wir unseren Humor nicht verlieren.

Text: Petra Weiß
Foto: Stiftung Berliner Mauer

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Niemand hat die Absicht…

Essay von Petra Weiß, Lesedauer ~4 Minuten
Rubrik: Im Lichte der Geschichte

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ sagte Walter Ulbricht am 15.06.1961. Knapp zwei Monate später wurden die Menschen in Berlin gespalten, die Stadt wurde geteilt. Heute jährt sich der Mauerbau. Grund genug, diesen Ausbund an Unaufrichtigkeit aus psychologischer Sicht zu beleuchten.

Schauen wir uns zunächst die Vorgeschichte an: Mitte Juni 1961 waren binnen 14 Tagen (!) als Höhepunkt der Ausreisewelle mehr als 10.000 DDR-Bürger nach West-Berlin geflüchtet. Die SED-Regierung versuchte, die russische Besatzungsmacht für einen Grenzwall zu gewinnen. Chruschtschow zögerte. Immerhin musste er für das Anliegen die Verträge der Allianz brechen. Selbstverständlich wussten die Bürger nichts über das Ränkeschmieden im Hintergrund. Wir können das heute in den Geschichtsbüchern nachlesen.

Hätte man am 16.06.1961 öffentlich gemutmaßt, dass doch eine Mauer geplant sei, als Ergebnis einer Verschwörung der SED mit ihrer Zonenaufsicht gegen das Volk der DDR und gegen die West-Alliierten – Mit welcher Empörung wäre man dann wohl von den Staatsmedien diffamiert worden? Aber das nur am Rande.

Interessanter finde ich den Zusammenhang, in dem der historische Satz gesprochen worden ist: Die Pressekonferenz verlief völlig unspektakulär. Ulbricht wiederholte Aussagen, die alle bereits kannten. Die ersten Journalisten waren schon gegangen, man wähnte die Veranstaltung praktisch als vorbei. Da stellte die Redakteurin der WELT eine Zusatzfrage. Ulbricht reagierte darauf mit dem berühmten Ausspruch.

Im selben Atemzug unterstellte er, im Westen gäbe es Interessen an einem Mauerbau und erklärte, warum im Osten solche Bestrebungen gar nicht bestehen können: Das Bauwesen sei mit Wohnungsbau beschäftigt. Die Unterstellung war eine Projektion, die Begründung ebenso fadenscheinig wie unnötig. Man darf spekulieren, ob die Rede vorbereitet war und endlich ausgesprochen werden wollte. Denn wissen Sie was? Die Frau hatte gar nicht nach einer Mauer gefragt!

Die Historiker sind sich uneinig, ob Ulbricht die Worte versehentlich oder aus einem Kalkül heraus geäußert hat.

Mich erinnert der Sachverhalt an einem Tipp, den ich vor vielen Jahren von meinem Hypnoselehrer erhalten habe: „Der Patient gibt Dir die entscheidende Information schon im ersten Gespräch und oft beim Verlassen der Praxis.“ Der Idee stand ich anfangs eher skeptisch gegenüber. Mit viel Aufwand habe ich nach einigen Jahren psychotherapeutischer Praxis meine Notizen aus sämtlichen Erstanamnesen dahingehend analysiert. Ich wollte wissen, ob ich im ersten Gespräch tatsächlich Hinweise erhalten hatte auf das Thema, das letztlich zur Lösung des Problems geführt hat. Erstaunt musste ich feststellen: Mein Lehrer hatte Recht.

Mir erscheint es so, als spüle das Unterbewusste das Wesentliche unaufhaltsam nach oben. Die Wahrheit kommt immer ans Licht. Und wenn sie sich in einer anscheinend nebensächlichen Ungereimtheit zu erkennen gibt wie in der möglicherweise vorgefertigten Antwort auf eine ungestellte Frage. Diese Erkenntnis macht mir als Aufrichtigkeitssuchende Hoffnung.

Auf der Seite www.bundesregierung.de findet sich ein Artikel über den Vorfall mit der Bemerkung „(…)und Ulbricht steht als einer der größten Lügner der Geschichte da.“ Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Mann in dieser Hinsicht kein Ausnahmetalent war.

Bleiben Sie wach und wählen Sie mit Bedacht, wem Sie glauben wollen.

Text: Petra Weiß
Foto: Stiftung Berliner Mauer

Danke schön

Herzlichen Dank an alle Leser, die meine freiberufliche Tätigkeit durch einen Energieausgleich würdigen. Ich liebe die Arbeit an Texten. Mir macht es Freude, mein psychologisches Wissen, meine Praxis-Erfahrungen und meine Überlegungen mit Ihnen zu teilen. Gleichzeitig habe auch ich alltägliche Bedürfnisse wie ein Dach über dem Kopf und etwas Sojasahne im Kühlschrank. Daher bitte ich Sie, freiwillig einen angemessenen Energieausgleich zu leisten:

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